Ein wortgewaltiger und visuell gut gestalteter Film. Eine einzigartige Strukturierung. Ein visueller Stil, den man am besten als malerische Schönheit mit starker Rahmung und Verwendung von Farbe beschreiben kann. Eine Geschichte, die mit den Augen eines 11-jährigen Mädchens auf einem mittelamerikanischen Bauernhof in der Reagan-Ära 1982 erzählt wird. Dies ist AMERICAN FABLE, das Spielfilmdebüt der Autorin/Regisseurin Anne Hamilton.

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Die Anwältin, die zur Filmemacherin wurde, zeigt mit einem Blick auf den Film, dass Hamiltons juristischer Hintergrund in die Ausgewogenheit ihrer Erzählung einfließt, sowohl in Bezug auf die Geschichte als auch auf die Bilder. Jede Geschichte hat zwei Seiten, und am Ende des Films überlässt Hamilton es dem Publikum (bzw. der Jury), selbst zu entscheiden, wer Recht hat und wer nicht, usw. Das Praktikum bei Terrence Malick für „The Tree of Life“ hat Hamilton ebenfalls geprägt, vor allem durch die ästhetischeren, traumähnlichen, schwungvollen Überkopfaufnahmen. Aber im Gegensatz zu Malick ist jedes Element von AMERICAN FABLE durchdacht und gut durchdacht, angefangen bei der Geschichte und unserer Heldin Gitty.

So zeitgemäß und aktuell die Themen der Entrechtung, der moralischen Dilemmata, der Besitzenden gegen die Habenichtse, der Krieger gegen die Schwachen (Großunternehmen gegen Bauern) auch sind, AMERICAN FABLE ist zeitlos.

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Der Film spielt in Madison, Wisconsin, im Farmland der USA, inmitten der Agrarkrise der 1980er Jahre, und wir sind uns der finanziellen Notlage der Gemeinde und der Familien in AMERICAN FABLE sehr bewusst. Die Landwirtschaft ist für viele dieser Familien seit Generationen die Lebensgrundlage. Während eine Farm nach der anderen scheitert und das Land von Bauunternehmern aufgekauft wird, versuchen die Verbliebenen verzweifelt, nicht nur ihr Erbe, sondern auch ihre Lebensweise zu bewahren. Gerüchte über Selbstmorde machen die Runde und sorgen für eine düstere Stimmung in der Gegend. Eine dieser von der Krise betroffenen Familien ist die von Gitty.

Gitty ist der Augapfel ihres Vaters. Sie ist eine echte Einzelgängerin, aber für ihren Vater Abe ist Gittys bester Freund ihr Lieblingshuhn Happy. Abe tut sein Bestes, um Gitty, ihrer Mutter Sarah, einer Fabrikarbeiterin, die mit ihrem dritten Kind schwanger ist, und Gittys älterem Bruder Martin die schrecklichen Neuigkeiten über ihre eigene Farm vorzuenthalten. Während Gitty die Freude in der Familie ist, grenzt Martin an eine echte Psychose, denn er ist besessen vom Töten und vom Bösen.

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Mit einer lebhaften Fantasie ist Gitty ein fröhliches Kind. Es macht ihr nichts aus, allein zu sein. Sie träumt, sie stellt sich Dinge vor. Eines Tages, als sie mit dem Fahrrad durch die Maisfelder fährt, stößt Gitty auf etwas Seltsames. In einem alten, unbenutzten Silo am Rande der Familienfarm ist ein Mann namens Jonathan eingesperrt. Offensichtlich ist er ein wohlhabender Mann, denn obwohl er schmutzig ist, ist seine Kleidung teuer. Er trägt eine Schutzweste. Als Gitty ihn entdeckt, bittet er sie um Essen, da er offenbar seit Tagen nichts mehr gegessen hat.

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Unsicher, was sie von Jonathan halten soll, behält Gitty dieses kostbare Geheimnis für sich, während sie und Jonathan eine Freundschaft entwickeln; zuerst mit Essen und etwas Konversation, aber dann mit Büchern und Geschichten. Jonathan eröffnet Gitty mit seinen wunderbaren Geschichten eine ganze Welt jenseits des Bauernhofs. Er bringt ihr sogar das Schachspiel und das Lesen bei (denn sie kann nicht so gut lesen). Gitty hat herausgefunden, wie sie sich für die täglichen Treffen in das Silo hinunterlassen kann, indem sie sich ein Geschirr bastelt. Doch sie hilft Jonathan nicht bei der Flucht, und in der Regel bittet er sie auch nicht darum.

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Da Gitty ein aufmerksames Mädchen ist, hat sie Gerüchte über einen Bauträger gehört, der alle zwangsversteigerten Farmen in der Gegend aufkauft, und ihr ist klar, dass es sich um Jonathan handeln muss. Sie späht um Ecken, in den Schatten von Gängen, versteckt sich auf einem Heuboden und belauscht Gespräche zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder Martin und einer unbekannten Frau namens Vera, die Gitty in ihren Träumen immer wieder als dunkle Reiterin sieht – eine schwarz gekleidete Frau mit einem gehörnten Widderkopf auf ihrem Körper, die auf einem Pferd reitet. Langsam findet Gitty heraus, dass ihr Vater in die Entführung von Jonathan verwickelt ist, einem Mann, den sie jetzt „Freund“ nennt.

Aber ihr Geheimnis über ihre Freundschaft mit Martin ist nicht länger geheim, denn Martin hat sie ausspioniert. Martin bedroht Gitty und steigert seine Drohungen noch, als er zuerst ihr Huhn Happy tötet und dann einen von Jonathans Fingern abschneidet und in den Kühlschrank legt, damit Gitty ihn findet. Dann offenbart er Abe und Vera, dass Gitty Jonathan kennt.

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Der Höhepunkt steht bevor und Gittys Bruder Martin wird immer instabiler und gewalttätiger, während Vera die Fäden von Abe zieht.

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Abgesehen von der Geschichte selbst, steht und fällt AMERICAN FABLE mit den Leistungen und der Chemie zwischen der Newcomerin Peyton Kennedy und dem altgedienten Charakterdarsteller Richard Schiff als Gitty bzw. Jonathan. Kennedy ist schon für sich allein eine herausragende Persönlichkeit, aber im Zusammenspiel mit Schiff entfaltet sich die Dynamik wunderbar. Zwei Menschen aus zwei verschiedenen Welten, die eine ein junges Mädchen, das versucht herauszufinden, was richtig und falsch ist und was genau vor sich geht, und der andere, der zwar weltgewandt ist, aber dennoch sensibel mit Gittys Jugend umgeht, um ihre unabhängigen Denkprozesse nicht zu beeinträchtigen. Die Beziehung zwischen Gitty und Jonathan ist bereits im Drehbuch gut ausgearbeitet, aber durch die Besetzung von Kennedy und Schiff kommt sie auf der Leinwand mit echter Wärme zur Geltung.

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Regisseur Hamilton beschreibt Schiff als „fantastisch“ und bemerkt: „Die anderen Schauspieler waren wunderbar, aber als Richard am Set auftauchte, hat sich alles verändert. Alle waren so inspiriert. Er hat das Set aufgewertet. Er ist etwas Besonderes.“

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So wunderbar Peyton Kennedy auch mit Schiff zusammenarbeitet, ein Großteil des Films ruht allein auf ihren jungen Schultern, vor allem in Szenen, die introvertierte Reflexionen ohne Dialog sind. AMERICAN FABLE zeichnet sich durch eine große Ruhe aus, die es nicht nur Gitty, sondern auch dem Publikum ermöglicht, nachzudenken und zu reflektieren. Kennedy hat eine Präsenz, die einer beobachtenden und stillschweigend hinterfragenden Darstellung innerhalb einer Figur angemessen ist. Sie strahlt Reife und Stille aus, aber auch eine tiefe Unschuld. Es sind diese Stille und diese Ruhe, die ein großartiges Schauspiel ausmachen. Sie ist sowohl beeindruckend als auch bewegend in ihrem Handwerk.

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Als Abe ist Kip Pardue eine angenehme Besetzung. Glaubwürdig als fürsorglicher Vater. Glaubwürdig als ein verängstigter Mann, der versucht, das Haus seiner Familie zu retten. Pardue steigert sich jedoch ein wenig, wenn er es mit Zuleikha Robinsons Vera zu tun bekommt. Als Vera ist Robinson die Perfektion dieses mephistophelischen Charakters, sei es in alltäglicher Geschäftskleidung oder als der dunkle Reiter in Gittys Träumen. Eine weitere Dimension für Robinson und die Figur der Vera ist das Zusammenspiel mit Gavin MacIntoshs Martin, der nach Vera giert, sich als würdig erweisen will und dazu bereit ist, jede illegale oder abscheuliche Tat zu begehen. MacIntosh ist eine starke Präsenz, die der gesamten Geschichte eine schräge Note und Spannung verleiht.

Nicht zu übersehen ist ein lustiger, leichter Aspekt des Films dank Rusty Schwimmer als übermäßig freundlicher, pensionierter Polizeibeamter, der neu in der Bauerngemeinde ist.

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Auch wenn die Geschichte im Großen und Ganzen stark ist und die Charaktere gut definiert und relevant sind, fühlt sich ein Teil der Mythologie, die sich in Gittys Träumen abspielt, angesichts ihrer metaphorischen Natur nicht ganz so gut entwickelt an. Was sie jedoch wirklich auszeichnet, ist die Ausgewogenheit und die Darstellung der Probleme und Themen, die den Kern der Geschichte ausmachen. Ursprünglich wurde der Film aus der Sicht von Abe geschrieben, doch durch den organischen Wechsel zur Sicht von Gitty wird er effektiver und gibt einem die Möglichkeit, die Unschuld eines Kindes zu haben, das beide Seiten der Medaille objektiv betrachtet. Die Bauernhöfe falten sich. Abe ist ein wirklich guter, liebevoller Vater. Sarah ist eine gute Mutter. Abe will sich nur um seine Familie kümmern und sie unterstützen. Aber sie leben in verzweifelten Zeiten, was die Frage aufwirft: Was würdest du an Abes Stelle tun? Verzweifelte Zeiten erfordern oft verzweifelte Maßnahmen, und wenn man sich gezwungen sieht, mit dem Teufel zu verhandeln, ist es schwierig, Kritik zu üben oder ihn zu verurteilen, weil man weiß, welche Absicht hinter seinem Handeln steckt. Spannung und Angst sind spürbar. Sehr starke Konzepte, die noch lange nach dem Ende des Films zum Nachdenken und zur Diskussion anregen.

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Hamiltons größte Stärke liegt jedoch in der Schaffung der visuellen tonalen Bandbreite für AMERICAN FABLE. Sobald sich der Blickwinkel auf Gitty verlagert hat, konnten Hamilton und ihr Kameramann Wyatt Garfield den fantastischen, traumhaften Aspekt des Films öffnen und die Bilder insgesamt ein wenig magischer gestalten, weil ein Kind die Welt magischer sieht. Jedes Bild in diesem Film könnte für sich allein stehen und an einer Wand hängen. Jedes Bild ist atemberaubend. Die Verwendung von Farben, die Sättigung, die Verwendung eines Weitwinkelobjektivs, die symmetrische Rahmung – die Ausgewogenheit reicht über das geschriebene Wort hinaus in die visuelle Darstellung, so dass jedes Bild perfekt ist.

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Farbe spielt in AMERICAN FABLE eine wichtige Rolle als Metapher und Identifikation. (Achten Sie auf Rot.) Indem wir jeder Figur eine bestimmte Farbe zuordnen, können wir sie unterbewusst verfolgen, während die Verwendung eines blaugrünen Farbtons im Silo langsam in jedes Bild und schließlich in das Haus der Familie vordringt, während sich mehr von der Wahrheit und der Gewalt entfaltet. Die Nachtszenen sind von einem satten, tiefblauen Schwarz mit glitzernden Sternen. Eine der bedeutendsten visuellen Gestaltungen des Films findet im dritten Akt statt, als sich die Tonalität „ins Licht“ verschiebt und das Bild mit Sonnenlicht und blauem Himmel wie bei einer Metamorphose gefüllt wird. Wunderschön gemacht. Im Großen und Ganzen fühlt sich das Bild wie „Feuchtigkeit in Farbe“ an. Wenn Luftfeuchtigkeit Farbe hätte, dann wäre sie der Look von AMERICAN FABLE.

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Ein Zeugnis für Hamiltons Auge und das von DP Garfield sind Gittys Traumsequenzen. Metaphorisch und magisch gehen sie über den Dark Rider hinaus. Eine Sequenz beginnt mit einer fast mittelalterlichen religiösen Ikonographie und verwandelt sich in ein modernes nächtliches Jahrmarktsereignis, in dessen Mittelpunkt ein prächtiges Karussell steht. Die gesamte Sequenz ist in Rot- und Goldtönen gehalten, mit dem Karussell als Herzstück, das in der schwarzen Nacht glitzert und funkelt. Wunderschön. Die atemberaubende Schönheit kontrastiert mit dem unterschwelligen Schrecken des Traums. Ein wunderbares Nebeneinander. Sogar „im wirklichen Leben“ wiederkehrende Ereignisse wie Gitty, die mit dem Fahrrad durch die Farm zum Silo fährt, da ihr Weg sie immer durch Maisfelder führt, deren Halme hoch in den Himmel ragen und sie einhüllen, und die dann einen Friedhof durchquert, sind starke Metaphern, die sich durch den Film ziehen.

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Die Gestaltung der Aufnahmen ist für den Ton von AMERICAN FABLE wesentlich. Alles perfekt und wunderschön. Es gibt einen Kubrick-esken Einfluss auf die Gestaltung der einzelnen Bilder, wobei jedes Bild klar für das jeweilige Bild ausgeleuchtet ist. Die Liebe zum Detail im großen Schema des Geschichtenerzählens verblüfft. Die Bilder ziehen uns gleichermaßen in den Bann von Momenten des Schreckens und des Staunens. Es ist eine reichhaltige und aussagekräftige Gegenüberstellung, die den Ton der Geschichte widerspiegelt.

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Das Tüpfelchen auf dem i ist die erschreckend schöne Musik von Ginggar Shankar. Beklemmend und bedrohlich, mit einem starken Einsatz von Streichern und fast choralartigen Klängen, trägt er zur Mystik von AMERICAN FABLE bei.

Anne Hamilton beweist mit AMERICAN FABLE mehr als nur ihr Können als Regisseurin und Geschichtenerzählerin. Diese Regisseurin sollte man auf dem Radar haben. Ich kann es kaum erwarten, zu sehen, was sie als nächstes abliefert.

Autoren und Regisseure: Anne Hamilton
Besetzung: Peyton Kennedy, Richard Schiff, Kip Pardue, Gavin MacIntosh, Rusty Schwimmer

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