Die Halogene Br2 und Cl2 addieren sich an die Doppelbindung eines Alkens und bilden vicinale Dihalogenide – eine Verbindung, die die Halogene an benachbarten Kohlenstoffen trägt (vicinus, lateinisch: benachbart). Diese werden auch 1,2-Dihalogenide genannt:
Die Reaktion mit Brom ist ein Standardtest für das Vorhandensein einer π-Bindung. Brom ist eine dunkelrote Flüssigkeit und wird bei der Reaktion mit einer Doppelbindung farblos.
Es können auch gemischte Halogenierungen erzielt werden. Zum Beispiel wurde eine Mischung aus Br2 und Cl2 zur Bromchlorierung verwendet.
Die Reaktion ist möglich, weil die Halogenbindung relativ schwach und polarisierbar ist. Wenn sich die elektronenreiche π-Bindung dem Halogen nähert, bewirkt sie, dass eines der Atome teilweise positiv geladen ist und nun zum Elektrophil wird, das das Alken angreift:
Man kann erwarten, dass dieser Mechanismus dem der Halogenwasserstoff-Addition ähnelt, bei der die Protonierung des Doppels ein Carbokation nach der Markovnikov-Regel erzeugt:
Dieser Mechanismus erklärt jedoch nicht die ausschließliche Anti-Addition des Halogens. So entsteht beispielsweise bei der Addition von Brom an Cyclohexen trans-1,2-Dibromcyclohexan, während cis-1,2-Dibromcyclopentan nicht beobachtet wird:
Der Mechanismus, der diese Stereochemie erklärt, beinhaltet ein zyklisches Bromonium-Ion als Zwischenprodukt.
Die p-Elektronen der π-Bindung greifen das Br2 an, um mit ihm eine neue σ-Bindung zu bilden, und das andere Brom verlässt es mit dem Elektronenpaar. Dabei wird jedoch kein Carbokation gebildet, da die Elektronenwolke des gebundenen Broms dem anderen sp2-Kohlenstoff sehr nahe ist und mit ihm eine neue Bindung eingeht. Anstelle des bei Additionsreaktionen üblichen Carbokations wird daher ein zyklisches Bromonium-Ionen-Zwischenprodukt gebildet:
Wichtig zu erwähnen ist hier, dass die Halogenierung und andere Reaktionen mit dem Halonium-Ion keine Umlagerungen beinhalten, da kein Carbokation gebildet wird.
Dieses zyklische Zwischenprodukt ist ein dreigliedriger Ring, der wegen der hohen Belastung instabil und anfällig für nukleophile Angriffe ist, wie wir auch bei der Oxymercuration-Reaktion gesehen haben. Außerdem ist das Brom positiv geladen, was es zu einer hervorragenden Abgangsgruppe in einer nukleophilen Substitutionsreaktion macht:
Die Frage ist, wer ist das Nukleophil? Und das tut das Br-, das bei der Ringbildung ausgestoßen wurde. Es greift den Kohlenstoff durch den SN2-Mechanismus an, setzt die Spannung frei und bildet das endgültige Dihalogenid:
Dieses Dihalogenid ist eine chirale Verbindung, bildet sich jedoch als racemisches Gemisch. Die anfängliche Addition des Br an das Alken erfolgt von beiden Seiten der Doppelbindung aus, wodurch zwei Enantiomere des Bromonium-Ions entstehen. Der anschließende Angriff des Br- führt zur Bildung beider Enantiomere in gleichen Mengen:
Achtung bei Meso-Verbindungen. Nicht jedes Dihalogenid mit stereogenen Zentren ist chiral:
Chlor reagiert auf die gleiche Weise mit Alkenen und bildet ein Chloroniumion, das im Allgemeinen Haloniumion genannt wird.
F2 und I2 sind für diese Reaktion synthetisch nicht brauchbar, da F2 mit dem Alken explosiv reagiert, während die Reaktion mit I2 nicht in nennenswertem Umfang abläuft:
Die Halogenierung von Alkenen wird in einem neutralen organischen Lösungsmittel wie Tetrachlorkohlenstoff (CCl4 oder Dichlormethan, DCM (CH2Cl2) durchgeführt, das bei der Bildung des Haloniumions nicht als Nukleophil wirken kann.
Wird die Reaktion dagegen z. B. in Wasser durchgeführt, so bildet sich durch die Addition des Wassers an das Haloniumion ein Halohydrin:
Auch wenn das Br- oder Cl- in der Nähe sind, um den nukleophilen Angriff durchzuführen, hat Wasser den Vorteil, dass es in großem Überschuss vorhanden ist, da es häufig als Lösungsmittel verwendet wird.
Es folgt immer noch derselbe Mechanismus; daher kommt es zur Anti-Addition von Trans-Produkten:
Wenn ein unsymmetrisches Alken verwendet wird, kann das entstehende Halonium-Ion von einem Nukleophil an den beiden mit dem Halogen verbundenen Kohlenstoffatomen angegriffen werden:
Und es zeigt sich, dass das Nukleophil das stärker substituierte Kohlenstoffatom angreift: