In der Chemie dreht sich alles um Elektronen. Das Verhalten von Atomen und Molekülen (ihr Säuregehalt, ihre Reaktivität, ihre molekulare Konfiguration usw.) hängt weitgehend von der Verteilung ihrer Elektronen ab. Im Allgemeinen sind Chemiker in der Lage, ziemlich genaue Vorhersagen zu treffen, wenn sie ein umfassendes Regelwerk verwenden, das die aus den elektronischen Eigenschaften abgeleitete „chemische Logik“ enthält. Hin und wieder widerspricht die Realität jedoch diesem „chemischen gesunden Menschenverstand“.
Ein eindrucksvolles Beispiel wurde soeben von HIMS-Forscher Dr. Tiddo J. Mooibroek in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Balearen (Spanien) in Nature Communications veröffentlicht. Sie argumentieren, dass Nitratanionen (NO3-) unter bestimmten Umständen eine kontraintuitive Lewis-Säureeigenschaft aufweisen können: Die Nitratanionen können als Elektronenakzeptoren fungieren, während sie im Allgemeinen als Elektronendonatoren angesehen werden.
Neue Interpretation der Daten
Die Forscher zeigen, dass die Nitratanionen mit elektronenreichen Einheiten im festen Zustand günstig wechselwirken können. Ihre Überlegungen scheinen jedoch auch für NO3- in Lösung zu gelten. Da Nitratanionen in der Chemie und Biologie sehr häufig vorkommen, gehen die Forscher davon aus, dass ihre Ergebnisse als (retrospektiver) Leitfaden für die Interpretation von Daten dienen können, an denen Nitratanionen beteiligt sind.
Beispiele sind die Bildung von ortho-Nitrat (NO42-), Fälle, in denen NO3-Anionen eine strukturelle Determinante sein können (wie bei 3EZH-Proteinen), oder Transport- und Erkennungsphänomene, an denen dieses allgegenwärtige Anion beteiligt ist.
Eine saure Lewis-Stelle entsteht am Stickstoffatom
Mit Hilfe von Berechnungen zeigen die Forscher, dass eine saure Lewis-Stelle am Stickstoffatom entsteht, wenn die Ladung des Nitrats durch Resonanz auf einer größeren Fläche ausreichend gedämpft wird. Die Berechnungen sagen ferner voraus, dass unter solchen Umständen elektronenreiche Partner (z. B. Anionen oder Einzelelektronen) günstig mit der Lewis-Säure-Stelle interagieren.
Experimentelle Unterstützung für diese Idee wurde durch Untersuchungen der Festkörperstrukturen in der Cambridge Structural Database (CSD) und der Brookhaven Protein Data Bank (PDB) gefunden. Diese Untersuchungen ergaben geometrische Präferenzen einiger sauerstoff- und schwefelhaltiger Einheiten um ein Nitratanion, die mit einer Wechselwirkung zwischen der Lewis-Säure am N und dem elektronenreichen O/S übereinstimmen. Berechnungen ausgewählter Beispiele zeigen Donor-Akzeptor-Orbital-Wechselwirkungen, die die kontraintuitive Lewis-Säure von Nitrat bestätigen.
Einzigartige Eigenschaften
Bei der Überlegung, welche anderen Anionen ein solches Verhalten zeigen könnten (unter Verwendung anderer Atome als Wasserstoff), argumentieren die Forscher, dass Nitrat tatsächlich eine ziemlich einzigartige Reihe von Eigenschaften hat, die es in dieser Hinsicht von anderen üblichen Anionen unterscheidet: NO3- ist ziemlich polarisiert und weiter polarisierbar, nicht so ladungsdicht, und Nitrat ist flach, was die Lewis-Säure-Stelle sterisch zugänglich macht.